R O T
Ich sehe rot, es zieht mich an. Rot wie die Liebe. Die Allmacht. Was heisst das eigentlich – die Allmacht, darf man dieses Wort für Liebe verwenden oder ist es eben gerade nicht so?
Ich lege die Karte auf die Seite. Ich möchte mir in Ruhe Zeit nehmen, um mich dem Wort auf der Rückseite zu widmen. Es zieht mich hin, es zieht mich weg. In mir macht sich eine Aufregung breit. Soll ich mich einfach daran laben und diese umdrehen und sie mir zu Gemüte führen? Eine Freude kommt auf, ich spüre sie in meinem Herzen und in meinen Armen und wenn ich genauer hinspüre in meinem ganzen Körper. Die Freude fühlt sich aber auch wie Angst an, fast zu verwechseln die beiden. Mein Herz klopft. Wieder ein Schub Angst oder Freude, die durch meine Arme geht, wie ein kleiner Blitzschlag, der nur ein bisschen schmerzt. Die Karte ist für mich, ganz persönlich für mich, sie hat etwas hier und jetzt mit mir zu tun. Trauer kommt auf, die Tränen machen sich bemerkbar. Jemand hat sich Zeit genommen, um etwas für mich persönlich auszuwählen. Dankbarkeit. Berührtheit. Das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Ein Gedanke: ‘das ist narzisstisch’. Wovor willst du mich schützen, Gedanke? Vor meiner eigenen inneren Grösse?
Ich schaue Sie an, die Karte, sie liegt da, wartet darauf, umgedreht zu werden. Es fühlt sich intim an. Wann ist der Moment, erkenne ich den Moment? Darf ich das einfach, sie umdrehen oder muss ich es mir vergönnen? Ein Geschenk vergönnen? Aber es kommt von Herzen, das spür’ ich genau. Ein Geschenk, das von Herzen kommt, nicht annehmen? Da kommt sie wieder, die Traurigkeit. Jetzt mischt es sich, Traurigkeit und Angst. Es macht sich breit im Solarplexus. Erwartungen? Seid ihr da? Die Angst sitzt tief, denkt es mich. Es schmerzt da drin, irgendwo. Es zieht mich weg von der Karte, hin zu mir. Zu meiner Angst. Wovor nur? Was willst du mir sagen, Angst? Es schmerzt in meinem Rücken. Ich verstehe nicht. Mein Atem wird flach, kaum ein Einatmen, nur ein Ausatmen und dort drin verharren. Das bin ich. So fühlt es sich an. Diese Worte kommen langsam, zaghaft und ruhig. Das bin ich, da drin. Stille. Zuwendung, Traurigkeit, Fühlen. Spüren. Sein mit dem was ist.
Ich schenke ihm Atem da drin, mit geschlossenen Augen, zaghaft, ruhig, gerade so viel, dass es mich nicht bremst. Ich freu mich drauf, mich zu zeigen, ich hab aber auch Angst davor. Herauszutreten. Scheu, still, hinten ist Licht. Es ist umringt von Licht, man sieht es nicht, das Wesen, rundherum ist Licht, darum ist das Gesicht und die Gestalt dunkel. Sie tritt heraus, kommt näher. Und näher und näher und wird immer grösser. Und plötzlich – da steht das Wesen vor mir. Ich habe Angst. Wer bist du. Ich bin du, sagt das Wesen. Ich bin du. Es dreht sich um, ist genau so gross wie ich. Rückwärts, saugt es sich in mich rein, wie ein sog, verschmelzen wir. Du und ich. Ich. Das Licht strahlt mich an, von vorne. Ich bin ich und ich bin da. Ich werde ruhig, nehme in mich auf. Das Licht ist weg, es ist eher wieder kühl. Ich verstehe noch nicht ganz. Ich widme mich dem, was passiert ist. Etwas in mir, traut sich noch nicht ganz einzuatmen. Wenn ich ganz einatme, dann wird das Wesen ganz seinen Platz in mir einnehmen, ausfüllen. Jeder Atemzug wird ein wenig tiefer. Je tiefer der Atemzug, umso mehr Platz bekommt es. Ich bin noch vorsichtig. Es ist mir gschmuch. Es geht jetzt runter den Beinen entlang. Das Atmen ist möglich, ganz leise und langsam vergrössere ich meinen Atem. Ich spür schon jetzt, wie es mich aufziehen wird. Plötzlich spüre ich eine Träne an der Seite meines rechten Auges. Nur fein. Ist sie wirklich da? Zeit und Raum geben, dem was jetzt grad geschieht. Das spüre ich, das ist jetzt wichtig. Alles zu seiner Zeit. Wo ist nur das Licht hin?
Es lebt in mir. Leben nimmt mich ein, überall. Die Karte kommt mir wieder in den Sinn. Ist der Zeitpunkt reif. Noch nicht ganz, das spüre ich. Das Wesen, es will noch ganz Platz in mir einnehmen. Es will in seiner vollen Grösse in mir sein.
Ich denke mir aufzustehen, in aller Langsamkeit, immer noch mit geschlossenen Augen. Der Atem ist immer noch zaghaft und noch nicht in seiner vollen Tiefe. Etwas hindert mich noch. Das Weglegen des Computers. Ich möchte alles genau wahrnehmen und in seiner Ganzheit dokumentieren. In seiner Detailliertheit, ich habe Angst etwas zu verpassen und nachher nicht so wiedergeben zu können, wie ich es erlebt habe. Es ist einzigartig, ein einzigartiger Moment. Ist Heilung wirklich möglich, fragt es mich. Die Augen sind plötzlich ofen. Der Atem wird weiter, der Körper ist noch etwas starr. Der Atem ist etwas zäh. Erwartung? Erwartung, dass etwas Grosses passiert, hemmt. Aber ich spüre Leben, in vielen Zellen in mir. Nicht in jeder, aber in vielen. Ich kann einschliessen, auch was schwierig ist. Kann ich das? Ich habe das Gefühl aussperren zu müssen, was nicht meins ist. Nur noch ich, ich, ich, aber das ist irgendwie einsam. Die Karte macht sich bemerkbar. Ist jetzt der Moment? Nein, die Zeit ist noch nicht reif. Ich spüre, wie es mich Geduld kostet. Worauf warte ich? Was passiert da? Was braucht es denn noch? Zeit? Ich mag nicht mehr warten, aber ich spüre schon, zu schnell darf es nicht gehen, sonst hält es nicht. Sonst geht es wieder. Erschreckt sich vielleicht. Bin ich noch auf meinem Weg? Ich denke an das Aussen, wie andere denken, was andere denken. Mich für verrückt erklären. Es macht mir Angst. Schmerz im Nacken und im Rücken. Ich habe Angst den Computer wegzulegen. Irgendetwas zu verpassen. ‘Du bisch’, lese ich da. Gesehen zu werden im eigenen Sein. Ist das Allergrösste, denke ich mir. Wieso nur ist das Licht weg. Oder ist es da draussen? Ich merke, wie es mich drängt, Druck kommt auf. Jetzt muss es schnell gehen. Das zerstückelt mich. Das fühlt sich nicht mehr ganz an. Es ermüdet mich. Das ist nicht, wo ich hinwollte. Unsicherheit kommt auf.
Angst, bis zum grossen Zeh. Jetzt ist der Moment der Entscheidung. Stehe ich auf oder versinke
ich in meinen Sitzsack, bis ich so klein bin, dass ich darin versunken bin. Mir ist klar, dass ich aufstehen sollte, aber ich stecke fest. Vielleicht braucht es einen anderen Weg. Dankbarkeit taucht auf. Jetzt bin ich irgendwie verloren. Der Druck, die Erwartung, gross sein zu müssen, wirken zerstörerisch. Es drängt in mir. Endlich fertig zu sein, aufzuhören. So, jetzt ist dann mal genug! Aber es will mir nicht gelingen. Ich stecke fest. Ist das wahr? Stecke ich fest? Ja, so fühlt es sich im Moment an. Bin ich 100% sicher, dass ich feststecke? Nein, ich möchte mich auf die Seite setzen, Schmerz im Rücken macht sich breit. Es drängt in mir: du nimmst zu viel Platz ein. Komisch, denke ich mir. Ich nehme eigentlich nur zu viel Platz ein, weil ich in diesem Feststecken versumpft bin und nicht, weil ich aufgestanden bin und meine wahre Grösse eingenommen habe. Ist das nicht paradox?
Ich drehe die Karte um. Da steht:
Nichts anderes brauche ich und plötzlich bekommt der Text ein ganz andere Farbe.
Denise Brem _herzen